Die Kriegszeit - Evakuierung und Heimkehr


In Berlin wurde es allmählich ungemütlich. Die Bombenangriffe auf die Stadt steigerten sich. Während die ersten zerstörten Häuser noch wie etwas Exotisches betrachtet worden waren, gehörten nun Ruinen mehr und mehr zu Alltag. Aber jeder hoffte, daß es nicht ihn selber treffen würde. Doch die Lücken in den Straßen häuften sich immer mehr. Besonders betroffen waren Grundstücke in der Nähe von Bahnanlagen. Man sah sich allnächtlich im Luftschutzkeller. Dort herrschte eine seltsame Stimmung. Wenn über etwas gesprochen wurde, dann nur über Nebensächlichkeiten. Von meiner Mutter wußte ich, daß beispielsweise die Familie Bachmann, die im ersten Stock gegenüber dem Kürschnermeister Schwutke residierte, sehr für das Dritte Reich eingenommen war. Familie Bachmann war zwar sehr freundlich, und jeder Hausbewohner durfte gern ihr Telefon benutzen, um den Weg zur Telefonzelle in der Warschauer Straße zu sparen. Aber Frau Bachmann hörte immer von der Küche aus mit, was am Telefon, das sich im Korridor befand, gesagt wurde. Und man war daher sehr vorsichtig, auch im Luftschutzkeller, und sprach nur über belanglose Dinge. Der Kürschnermeister Schwutke erschien niemals im Luftschutzkeller. Er blieb stets bei seinen beiden Dobermännern in der Wohnung.

Die Heftigkeit der Bombenangriffe steigerte sich von Nacht zu Nacht. Besonders gefürchtet waren die sternklaren Nächte, vor allem bei Vollmond. Da heulten die Sirenen oft drei- oder viermal in der Nacht. Und am nächsten Morgen war man vollkommen unausgeschlafen.

Im Herbst 1943 wurde damit begonnen, Schulen zu evakuieren und in weniger gefährdete Gegenden zu verlegen. Auch unsere Schule - die Altköllniscbe Schule (vormals Köllnisches Gymnasium) in der Inselstraße 2 am U-Bhf Märkisches Museum - wurde verlagert. Wir wurden in die Tschechoslowakei evakuiert, und zwar zuerst in das Iser-Gebirge nach Hochstadt an der Iser (Vysoké nad Jizerou) zwischen Gablonz an der Neiße und dem Riesengebirge. Wir machten dort Ausflüge in die Umgebung und erstiegen die Kesselkoppe im Riesengebirge. Im Winter 1943/44 lernten wir alle, uns auf Skiern zu bewegen.

Im Frühjahr 1944 wurden wir nach Bistritz am Pernstein (Bystrice nad Pernstejnem) - auf halbem Wege zwischen Prag und Brünn - verlegt.

Dort in Bistritz besuchte mich Anfang Mai 1944 überraschend mein in Frankreich stationierter Vater. Er blieb ein paar Tage dort. Ich bekam für diese Zeit Urlaub von der Schule, und mein Vater machte mit mir Fahrten nach Prag und nach Brünn. Als er wieder zurück mußte, winkte er noch lange aus dem Zugfenster, bis der Zug in Richtung Prag in einer Kurve verschwand. Wenige Wochen später besuchte mich ohne Vorankündigung meine Mutter und teilte mir mit, daß mein Vater am 26. Mai 1944 bei einem Bombenangriff der Alliierten auf den Bahnhof von Chartres ums Leben gekommen war. Auch ich hatte - wie so viele - gedacht, daß es immer nur die Anderen treffen würde, aber nun brach für mich eine Welt zusammen. Onkel Rudolf war inzwischen verstorben und das Haus Pintschstraße 22, in dem meine Großmutter gewohnt hatte, war von den Bomben zerstört worden. Meine Großmutter Mathilde wohnte seitdem bei meiner Mutter in der Kopernikusstraße 6.

Dann erhielt ich in Bistritz überraschend Besuch von meiner Tante Charlotte und von meiner Großmutter Elisabeth. Meine Tante Charlotte war nicht im eigentlichen Sinne politisch, aber sie besaß genug politischen Instinkt, der sie vor falschen Schritten bewahrte. Nachdem sie in mehreren Privatfirmen gearbeitet hatte, die dann nach 1933 "arisiert" wurden, wollte sie eine sichere Arbeitsstelle haben. Am besten wäre ein Posten in einer Behörde oder in einem Ministerium. Ein Cousin meines Vaters und meiner Tante - Alfred Ganady - hatte einen Posten im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, und zwar als Leibwächter von Dr. Goebbels. Dieser Onkel Alfred, der auf Grund seiner Tätigkeit die allerbesten Beziehungen zu Goebbels hatte, machte meiner Tante Charlotte ein finanzielles sehr lukratives Angebot, doch der betreffenden Posten war von einem Eintritt in die NSDAP abhängig. Inzwischen hatte sich meine Tante aber bei anderen Ministerien bemüht und bekam ein Angebot vom Reichsverkehrsministerium als Sekretärin eines Ministerialdirigenten - ohne in die Partei eintreten zu müssen. Da dieser Posten freie Fahrt auf allen Strecken der Deutschen Reichsbahn - die Strecken der besetzten Gebiete eingeschlossen - beinhaltete, zog meine Tante diesen Posten einer Tätigkeit im Propagandaministerium vor. Und meine Tante, die von jeher äußerst reisefreudig war, wußte dieses Privileg zu nutzen. Und so kam es zu einer denkwürdigen Fahrt in die Tschechei nach Bistritz am Pernstein.

Zu jener Zeit war eine Einreise in das "Protektorat Böhmen und Mähren" nicht mehr ohne weiteres möglich. Nach dem Attentat auf Heydrich benötigten Normalbürger eine förmliche Einreiseerlaubnis. Meine Tante Charlotte brauchte wegen ihrer Zugehörigkeit zum Reichsverkehrsministerium kein solches Papier; für meine Großmutter Elisabeth sah es jedoch schlechter aus. Es war für sie unmöglich, eine Einreiseerlaubnis zu bekommen. Da versuchte sie es einfach mit Dreistigkeit. Meine Tante besorgte meiner Großmutter über das Ministerium eine Freifahrkarte nach Prag - und dann traten beide die Fahrt an. Die Grenze zwischen dem "Reichsgebiet" und dem "Protektorat Böhmen und Mähren" lag damals bei Leitmeritz (Litomerice nad Labem). Dort stiegen die Kontrolleure - Angehörige der SS - ein. Meine Tante und meine Großmutter saßen im selben Abteil, taten aber so, als ob sie sich nicht kennen. Als der Kontrolleur kam und den von meiner Tante ihren Ministeriums-Ausweis vorgelegt bekam, legte er die Hand an die Mütze und erstarb beinahe vor Ehrfurcht. Dann kam meine Großmutter an die Reihe, die bis dahin unbeteiligt aus dem Fenster gesehen hatte. Er verlangte die Einreisegenehmigung, doch meine Großmutter sah ihn verständnislos an, schüttelte den Kopf und zog die Schultern hoch. Der Kontrolleur sagte fordernd: "Ausweis! Schein! Schein!". Doch meine Großmutter stellte sich absolut dumm und sagte kein einziges Wort. Der Kontrolleur wußte nicht, wie er sich verhalten sollte und blickte unsicher meine Tante an. Die schüttelte leicht den Kopf und machte eine abwinkende Handbewegung. Der Kontrolleur dachte wohl, daß meine Tante und die schweigsame Person in geheimer Mission unterwegs seien und ging zum nächsten Abteil. Diese Hürde war also passiert. Auf der Rückreise nach Berlin zwei Wochen später gab es keinerlei Schwierigkeiten. Meine Tante und meine Großmutter zeigten ihre Ministeriums-Freifahrkarten und ihre deutschen Personalausweise, und das genügte.

Zu den Erwachsenen, die uns zu betreuen hatte, gehörte auch eine Krankenschwester, die Mutter eines Mitschülers, eine sehr nette Frau aus Plauen. Ihr unterstand das Krankenrevier. Sie wohnte im Schulgebäude direkt neben der Krankenstube. Dort hatte sie auch einen Radioapparat und hörte abends, was um uns herum passierte. Nun wollten wir Schüler auch daran teilhaben. Da fügte es der Zufall, daß der Radioapparat plötzlich streikte. Da ich damals schon wußte, wie ein Einkreiser mit Rückkopplung funktioniert, bot ich mich an, den Fehler zu suchen - und fand ihn auch bald: es war ein defekter Kondensator. Die Frau war glücklich, daß sie wieder Radio hören konnte und wollte sich natürlich dafür erkenntlich zeigen. Ich machte den Vorschlag, daß ich eine (unauffällige) Leitung von dem Radioapparat außen am Haus entlang in unseren Schlafraum lege, damit ich dort ein Paar Kopfhörer anschließen könne. Sie ging auf meinen Vorschlag ein und war damit einverstanden, daß gleich mit der Arbeit beginne. Noch am selben Abend konnten wir mithören.

Nach einer Weile sprach sich das zu den anderen Klassen herum. Die von mir gelegte Leitung wurde angezapft. Es hängten sich immer mehr andere Neugierige an die von uns erschlossene Quelle, bis schließlich die Spannung an der Leitung so weit zusammenbrach, daß die Besitzerin des Radioapparates kaum noch etwas hörte. Da kam ich auf eine Idee. Von dem ortsansässigen (tschechischen) Rundfunktechniker besorgte ich mir zwei Klingeltrafos für 220 Volt Oberspannung. Einen dieser Trafos baute ich in den Radioapparat ein und schloß die abgehende Leitung an den 3-Volt-Ausgang an. Jetzt lagen nur noch wenige Millivolt an der Leitung. Bei uns im Schlafraum schloß ich den zweiten Klingeltrafo mit der Niederspannungsseite an und legte die Kopfhöreran die Oberspannungsseite. Jetzt konnten wir wieder mit ausreichender Lautstärke hören, während die unerwünschten Mit-Hörer kaum noch etwas vernehmen konnten. Ich stellte mich dumm, und die Besitzerin des Radios ließ niemanden außer mich an ihren Zauberkasten heran. Die Bewohner der anderen Schlafräume zerbrachen sich den Kopf, warum sie nun nichts mehr hören konnten, aber wir schwiegen eisern. Da wurden die anderen unangenehm und verpetzten uns bei den Lehrern. Die Krankenschwester bekam großen Ärger mit der Schulleitung uns wir mußten die Leitung abbauen.

Den Winter 1944/45 verbrachten wir noch in Bistritz. Zum Jahresende wurden alle Mitschüler der Jahrgänge bis 1929 zu den Luftwaffenhelfern eingezogen. Damit verlor die Schule mehr als zwei Drittel ihrer Schüler. Der Rest der Schule wurde erst nach Bresnitz (Bresnice) in Böhmen und dann etwas später 25 km weiter südlich nach Sedlitz (Sedlice) - zwischen Blatná und Pisek - verlagert. Dort war ich nun - da ich im Januar Geburtstag habe - der älteste Schüler. Vielleicht lag es an unserem jugendlichen Alter, daß wir noch nicht so indoktriniert waren wie die etwas Älteren; wir verließen uns nicht auf die Propagandasendungen des Reichsrundfunks, sondern hörten allabendlich die Nachrichten der alliierten Sender. Wir vernahmen, wie die alliierten und sowjetischen Truppen immer weiter vordrangen und aufeinander zustrebten. Die tschechische Grenze war bereits von der Sowjetarmee überschritten worden. Der Krieg konnte also nicht mehr lange dauern. Allerdings mußten wir uns bei unserer Tätigkeit vorsehen. Bereits bei unserer Ankunft in der Tschechei im September 1943 erfuhren wir (durch "unerwünschte Kontakte mit der Bevölkerung"), daß dort in sämtlichen Radioapparaten die Kurzwellenteile funktionsunfähig gemacht werden mußten. Bei politisch "verdächtigen" Personen wurden deren Radioapparate sogar beschlagnahmt. Und von unseren Lehrern waren einige sehr, sehr linientreu. Sie sprachen ständig von der "Wunderwaffe" und vom unmittelbar bevorstehenden "Endsieg".

Außerdem hatten wir in Bresnitz einen politischen "Aufpasser" zugeteilt bekommen, der als "Lagermannschaftsführer" tituliert wurde. An seinen Namen kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern. Vom Typ her sah er so ungefähr auswie der Schauspieler Michael Mendl in jüngeren Jahren. Dieser "Lagermannschaftsführer" war ein äußerst linientreuer Leichtverwundeter, etwa 30 Jahre alt, der zwar etwas humpelte, aber sonst körperlich kerngesund war. Er sprach einen Dialekt, der nicht nur allen Ausspracheregeln, sondern auch den deutschen Grammatikregeln zutiefst widersprach. Dem Klang nach mußte er er irgendeinem versteckten Seitentale des Erzgebirges entstammen, wohin das Hochdeutsche noch nicht vorgedrungen war. Seine Aussprache hatte absolut nichts nicht dem gepflegten und kultivierten Sächsisch zu tun, das in Dresden gesprochen wird. Und auch mit dem etwas anders klingenden Leipziger Sächsisch hatte dieser Dialekt nichts zu tun. Doch am bemerkenswertestem war seine Grammatik. Als einer von uns nach dem Sportunterricht irgendetwas vergessen hatte, fragte er: "Wähm seins is dos?" Wir konnten uns vor Lachen kaum halten. Autorität hatte er nicht, aber wir mußten uns vor ihm vorsehen, genau wie vor den beiden linientreuen Lehrern.

Um nicht abends oder nachts beim Abhören von "Feindsendern" erwischt zu werden, ersannen wir die folgende Maßnahme: Im Gegensatz zu den anderen Schlafräumen, wo die Betten - wir hatten immer Doppelstockbetten - an einer Wand und die Garderobenschränke an der Seite und an der den Fußenden der Betten gegeüberliegenden Wänden standen, drehten wir einfach dieses Prinzip um. Wir stellten in die Mitte des Raumes einen Tisch. Dann stellten wir die Garderobenschränke dicht um diesen Tisch. Kein Spalt ließ erahnen, daß sich hinter den Spinden ein Versteck befand. Die anderen Betten stellten wir ringsum an den Wänden auf. Um in die Mitte zu gelangen, mußte man von einem der außen aufgestellten Betten auf eines der Graderobenspinde springen. Auf dem Tisch hinter den Garderobenschränken befand sich einduch einen Akku betriebener Radioapparat, über den wir uns nachts über die tatsächliche Lage informierten. Wenn abends die Tür zu unserem Schlafsaal aufging, wurde der Radioapparat sofort abgeschaltet. Die Lehrer und der "Lagermannschaftsführer" hatten niemals etwas gemerkt. Ich wollte die Abschaltung noch mit einem Relais automatisieren, dessen Haltestrom beim Öffnen der Tür durch einen Kontakt unterbrochen werden sollte, aber dazu ist es dann nicht mehr gekommen.

Obwohl alle wußten, daß der Krieg nur noch wenige Wochen dauern konnte, wurde offiziell so getan, als ob der Endsieg unmittelbar bevorstünde. Morgens mußten wir uns immer zu einer Art "Appell" einfinden und in einer Reihe auf dem Hof aufstellen. Die Hakenkreuzflagge wurde gehißt und der Lagermannschaftsführer brüllte "Heil Hitler". Daraufhin sollten wir mit "Heil Hitler" antworten. Diese Antwort war in den vergangenen Wochen immer leiser geworden.

Doch an einem Tage kam - ohne jegliche Verabredung - die einstimmige Antwort "Guten Morgen". Der "Lagermannschaftsführer" erstarrte. Dann lief er puterrot an und schrie noch einmal "Heil Hitler!" Und wieder bekam er als Antwort zu hören: "Guten Morgen", und zwar kräftiger als vorher. Nach dem dritten Versuch gab er es auf und flüchtete. Jetzt wurden wir mutig. Beim Morgenappell am nächsten Tag bekam der "Lagermannschaftsführer" den folgenden Gruß zurück "Heil Moskau!" Das war zuviel. Er drehte sich um, rannte in das Schulgebäude und wollte mit der SS-Leitung in Prag telefonieren. Doch das klappte nicht, denn ich hatte bereits vorsorglich die Telefonleitung gekappt. Der einzige (tschechische) Fernmeldetechniker im Ort war dank unserer Vorarbeit erst am nächsten Tag aufzutreiben. Da war der "Lagermannschaftsführer" bereits auf Nimmerwiedersehen verschwunden.

Ende April 1945 erhielt die Schulleitung die Anweisung, uns nach Bayern zu bringen. Unterrichtsmittel, Lebensmittel-Vorräte ("Eiserne Reserve"), Decken und Bettzeug sowie unsere persönlichen Sachen wurden in Güterwagen verstaut. Natürlich sprach sich das bei der tschechischen Bevölkerung herum. Es entwickelte sich ein reges Tauschgeschäft mit uns. Die Tschechen waren interessiert an Hakenkreuzfahnen und an allem, was mit einem Hakenkreuz verziert war, weil sie diese Dinge als Erinnerung an eine schreckliche Zeit aufbewahren wollten. Als Gegenwert bekamen wir Kartoffeln, Zwiebeln, Speck und Eier in Hülle und Fülle. Da wir in unserem zentralbeheizten Schlafraum auch noch einen gußeisernen Kanonenofen zu stehen hatten, wurde dann allabendlich auf einer großen Pfanne gebrutzelt.

Schließlich kam der Tag der Abfahrt. Im Morgengrauen ging es los. Der Sonderzug bestand aus zwei oder drei Personenzugwagen mit offenen Plattformen, wie sie damals auf diesen Strecken üblich waren, und den Güterwagen mit dem Schulinventar, der Lebensmittelreserve und unseren persönlichen Sachen. Die Fahrt ging über Strakonitz (Strakonice) und Horaschdowitz (Horasd'ovice) bis nach Schüttenhofen (Susice). Als wir im Bahnhof angekommen waren, gab es Fliegeralarm. Unsere Lehrer scheuchten uns aus dem Zug und weg vom Bahnhof. Als die Bomber kamen, legten wir uns alle flach in einen Graben. Es krachte mehrmals. Nach der Entwarnung gingen wir zurück zum Bahnhof. Die Gleise vor und hinter dem Bahnhof waren zerstört. Eine Weiterfahrt war unmöglich. Nachdem unter den Lehrern Kriegsrat gehalten worden war, wurden wir aufgefordert, nur die allerwichtigsten Dinge und soviele Lebensmittel wie nur möglich in Rucksäcken und Brotbeuteln zu verstauen. Alle unsere sonstigen Sachen mußten in dem Güterwagen zurückbleiben.

Nun begann ein Fußmarsch in Richtung Südwesten über Hartmanitz (Hartmanice) und Markt Eisenstein (Zelesna Ruda) bis zur bayerischen Grenze. Unterwegs trafen wir auf die Amerikaner. Als ein Warnschuß gefallen war und wir uns alle flach auf den Bauch legten, gingen unsere Lehrer mit erhobenen Händen auf die Amerikaner zu und erklärten ihnen die Situation. Als die Amerikaner dann sahen, daß wir unbewaffnet waren, ließen sie uns weitermarschieren. Ich selbst war neugierig, ob mein Englisch schon ausreichte um mich mit den Amerikanern zu unterhalten und sprach die Insassen des ersten Jeeps an. Es funktionierte! Und ich bekam ein paar Stücken Schokolade, die ich dann verteilte. Dann ging es weiter. Am Abend waren wir dann in Zwiesel, unserem Bestimmungsort. Ein Schulgebäude mit einem Schlafsaal stand für uns bereit und wir fielen in den wohlverdienten Schlaf. Wir hatten an diesem Tage mehr als 50 Kilometer zu Fuß zurückgelegt.

Am nächsten Tag stellten wir fest, daß die beiden strammen braunen Lehrer, die uns ständig von der Wunderwaffe und vom kurz bevorstehenden Endsieg erzählt hatten, verschwunden waren. Mit der Verpflegung sah es allerdings schlecht aus. Für zwei, drei Tage hatten wir zwar noch unsere mitgebrachten Vorräte, aber dann wurde es kritisch. Wir waren vielleicht noch 100 Schüler, doch es war infolge der Umstände für uns nichts mehr vorbereitet. In Zwiesel erfuhren dann wir von der totalen Kapitulation. Der Krieg war also zu Ende. Es wurde nicht mehr geschossen und es gab keine Bombenangriffe mehr. Unser Schulleiter  Dr. Petzold  rief alle zusammen und erklärte, daß die Schule nunmehr aufgelöst sei. Er sagte, daß diejenigen, die auf eigene Faust sich nach Berlin oder anderwohin durchschlagen wollten, sich auf den Weg machen könnten. Außer mir meldeten sich noch drei andere Klassenkameraden. Wir bekamen Bescheinigungen über unsere Angehörigkeit zur Altköllnischen Schule, über die Auflösung der Schule und über das Ausscheiden aus der Gemeinschaftsverpflegung. Dann durften wir uns auf den Weg machen.

Damals machten Gerüchte die Runde, die Amerikaner würden sich wieder zurückziehen, und zwar bis zum 11. Längengrad, und würden alles Gebiet östlich davon der Sowjetunion überlassen. Ich glaubte nicht recht daran; außerdem war ich der Ansicht, daß die Russen auch nur Menschen seien. Ich wollte auf jeden Fall zurück nach Berlin. So machten wir vier uns also auf den Weg. Wir hatten zwar keine Landkarte bei uns, aber wir wußten genau, in welche Richtung wir laufen mußten. Der Weg führte uns über Bodenmais, Kötzting, Cham, Bodenwöhr, Wackersdorf, Schwandorf und Amberg zunächst bis nach Sulzbach-Rosenberg. Wir schafften am Tag meist so um 25 Kilometer. Wir übernachteten meist in Scheunen und bekamen von den Bauern oft noch etwas zum Frühstück. In Sulzbach-Rosenberg sahen wir einen US-Lkw, der mit laufenden Motar am Straßenrand stand und möglichwerweise in Richtung Nürnberg oder Bayreuth fahren würde. Ein dunkelhäutiger Soldat saß am Steuer, ein zweiter stand draußen. Ich faßte Mut und fragte die beiden, ob sie in Richtung Bayreuth oder Nürnberg fahren und uns mitnehmen würden. Die beiden Amerikaner, die unentwegt Kaugummi kauten, nickten und deuteten auf die Ladefläche. Von meinen Schulkameraden hatte nur einer den Mut, mitzufahren. Die anderen beiden wollten lieber laufen als sich schwarzhäutigen US-Soldaten anzuvertrauen. Wahrscheinlich steckten noch das "Feindbild" und der Rassenwahn in den Köpfen meiner Schulkameraden. Wir verabredeten uns, im oder vor dem Rathaus von Bayreuth aufeinander zu warten. Wir bekamen von den beiden Schwarzen noch ein größeres Stück Schokolade - und dann ging es in höllischem Tempo über Hersbruck und Lauf nach Nürnberg. Je weiter wir uns der Innenstadt näherten, umso größer waren die Zerstörungen. Am Laufer Tor, wo sich die Sulzbacher Straße und die Bayreuther Straße berühren, stand kein einziges Haus mehr. Überall sah man nur riesige Schutthaufen. Es sah aus wie nach einem Erdbeben. Am Laufer Tor wurden wir abgesetzt. Nun warteten wir darauf, daß wir ein Fahrzeug finden, das in Richtung Bayreuth fuhr. Es kam aber nichts. Also ging es zu Fuß weiter. Als wir den nächsten Ort erreicht hatten - es muß Heroldsberg gewesen sein - sahen wir, daß jemand einen klapprigen Lieferwagen zu starten versuchte. Wir rannten hin, fragten, ob wir mitfahren durften und waren dann nach einigen Stunden in Bayreuth. Dort holten wir uns im alten Rathaus unsere Lebensmittelmarken, besorgten uns ein Übernachtungs-Quartier in einer Jugendherberge und warteten auf die anderen beiden. Natürlich durften wir uns nicht zu weit vom Rathaus entfernen, um uns nicht zu verpassen. Nach zwei oder drei Tagen waren wir dann wieder zu viert. Die anderen beiden waren gelaufen.

Am nächsten Tag ging es dann weiter. Allerdings kamen wir nicht sehr weit. In Gefrees - etwa 20 km nördlich von Bayreuth - mußten wir anhalten, weil bei einem unserer Wanderer die Fußsohlen nicht mehr mitmachten. Wir meldeten uns bei der Bürgermeisterei für eine Woche an, bekamen unsere Reisemarken, wurden wieder in einer Jugendherberge untergebracht und ruhten uns ein paar Tage aus. Die nächsten Etappen waren Münchberg und Hof. Wir hofften, daß es von dort aus irgendeine Bahnverbindung in Richtung Leipzig oder Halle gäbe. aber diese Hoffnung trog. Alle Eisenbahnbrücken rund um Hof waren zerstört. Es wurde aber gemunkelt, daß in Sachsen und in Thüringen einige Strecken in Betrieb seien. Wir sollten am besten immer die Bahngleise entlang laufen, was wir auch dann taten. Nach einer Weile kamen wir an einem rostigen Schild vorbei. Auf der einen Seite stand "Freistaat Sachsen" und auf der anderen "Königreich Bayern". Dann kamen wir zum Bahnhof Gutenfürst. Der Bahnhofsvorsteher sagte, daß die Bahnlinie von Määhldoia nach Gera in Betrieb sei. Wir müßten also bis Määhldoia laufen. Als wir vier dann den ersten Ort in Sachsen - das Dorf Gutenfürst - erreichten, kamen die Bewohner auf die Straße, fragten uns, woher wir kämen und wohin wir wollten und luden uns dann zu einem üppigen Mahl ein. Diese Gastfreundschaft im ersten Orte des Freistaates Sachsen werde ich nie vergessen.

Doch wir mußten schließlich weiter. Zwar hatte keiner von uns je von einem Ort namens Määhldoia gehört, doch den Bewohnern dieses Landstrichs war dieser Name wohlbekannt. Wir fragten uns immer weiter durch und landeten schließlich an unserem Ziel. Und am Bahnhof stand nicht Määhldoia, sondern Mehltheuer. Und in dem Bahnhof stand ein Zug mit einer dampfenden Lokomotive davor. Am Fahrkartenschalter erfuhren wir, daß dieser Zug tatsächlich bis nach Leipzig fahren sollte. Wir kauften uns also Fahrkarten - alles mußte schließlich seine Ordnung haben - , suchten uns Fensterplätze und warteten. Der Zug füllte sich und setzte sich schließlich schnaufend in Bewegung. Die Fahrt führte im Schritt-Tempo über Zeulenroda und Weida erst bis Gera. Dort gab es einen längeren Aufenthalt. In Gera wurde der Zug sehr voll. Dann ging es weiter im Zuckeltrab über Zeitz bis in die südlichen Vororte von Leipzig. Abends hielten wir dann in Leipzig-Plagwitz. Weiter ging es nicht, da eine Brücke zerstört war. Bis zum Hauptbahnhof sind wir dann gelaufen. Wir fanden schnell die Stellen, die für Unterkünfte zuständig waren, wurden in einer Turnhalle einquartiert und wurden auf Grund unserer mitgebrachten Bescheinigungen auch sofort verpflegt.

In Leipzig war wenig zerstört, wenn man die Schuttberge in Nürnberg zum Vergleich nimmt. Es fuhren sogar einige Straßenbahnlinien. Wir blieben ein paar Tage in Leipzig, das damals noch von den Amerikanern besetzt war. Ich selbst war unternehmungslustig, sah mir die Innenstadt an, sah mir die Thomaskirche und das zerstörte Gewandhaus an, besuchte den Leipziger Zoo, wo sich gerade ein Bärenpärchen verlustierte und aneinander hing, und fuhr mit der Straßenbahn zum Völkerschlacht-Denkmal nach Probstheida. Inzwischen hatten wir ausgekundschaftet, daß in Richtung Norden keine Züge fuhren. Die Demarkationslinie zwischen dem amerikanisch besetzten Gebiet und dem von der Sowjetunion verlief entlang der Mulde. Es wurde gesagt, daß bei jedem Versuch, diese Grenze zu überschreiten, sofort scharf geschossen würde. In Torgau und in Colditz sollten sich jedoch offizielle Grenzübergänge befinden. Da ich keine Lust hatte, mich von Kugeln durchlöchern zu lassen, galt es also, es offiziell in Torgau oder in Colditz zu versuchen. Zwei meiner Schulkameraden bekamen nun Angst vor der eigenen Courage und beschlossen, sich zunächst zu Verwandten in Westdeutschland durchzuschlagen.

Nach Torgau konnte man nicht mit der Bahn gelangen; die Strecke über Eilenburg war unterbrochen, da die Bahnbrücke in der Mulde lag. Es gab aber eine Zugverbindung vom Leipziger Hauptbahnhof nach Colditz. Weiter ging es nicht, weil die Bahn dann auf die östliche Seite der Zwickauer Mulde - also in das von der Sowjetunion besetzte Gebiet - wechselte. In Colditz stiegen wir aus und wanderten in Richtung Innenstadt, die am anderen Muldeufer liegt. Und da sahen wir auch die bewußte Brücke. Es war ein seltsames Bauwerk, ganz aus neuen hellen Holzbalken, mit Holzgeländern auf beiden Seiten. Über der Mitte der Brücke war ein großes Tor mit einem roten Sowjetstern errichtet worden. Dieses Tor sollte wohl die Funktion eines Triumphbogens haben. Es sah pompös und zugleich unheimlich aus. Vor der Brücke befand sich ein Schlagbaum. Ein US-Soldat hielt dort Wache. Auf der anderen Seite der Brücke sah man ebenfalls einen Schlagbaum.

Als mein Kompagnon diese Situation erfaßte, trat er in Streik. Er war nicht bereit, auch nur einen Fuß auf diese Brücke des Satans zu setzen. Ich wußte nicht, warum. Das Wort ,,Zivilcourage" war mir damals noch nicht bekannt. Erst Jahrzehnte später gewann ich die Erkenntnis, daß die meisten Menschen, mit denen ich in Berührung kam, keine Zivilcourage besaßen. Wir stritten uns ein paar Minuten - und dann kehrte er um. Ich ging frech zu der hölzernen Notbrücke über der Mulde und redete zunächst mit dem amerikanischen Posten, der mich dann kopfschüttelnd passieren ließ. Als ich etwa auf der Mitte der Brücke unter dem Triumphtor mit dem Sowjetstern war, stellte sich mir der russische Posten in den Weg. Zum Glück konnte er etwas Deutsch. Zuerst fragte er mich etwas unwirsch: "Du Hitler-Freund?" Ich schüttelte den Kopf und sagte: "Hitler ganz große Scheiße! Hitler hat den Krieg angefangen! Und jetzt ist alles kaputt." Der Grenzposten war auf einmal sehr freundlich. Er fragte er, wo ich hin wolle. Ich sagte ihm, daß ich nach Berlin wolle. Er sagte: "In Berlin alles kaputt. Hitler tot, Nazis tot. Warum nicht kommen mit nach Russija. In Russija alles wird wieder aufgebaut." Ich sagte: "Ich stamme nun einmal aus Berlin, Berlin ist meine Heimat, und auch Berlin muß wieder aufgebaut werden." Das überzeugte ihn wohl. Er gab den Weg frei und gab mir den Rat, einen Umweg zu machen, damit ich nicht an der Kommandatur vorbei käme. "Kommandant sehr böse auf alle Deutschen!" war seine Warnung. Ich befolgte diese Warnung, kam unangefochten zum Marktplatz und zum Rathaus, legte meine Abmeldebescheinigung von der Schule vor, bekam Reisemarken für Brot und Fleisch und konnte mir dafür Brötchen und ein Stück Wurst kaufen. In Colditz erfuhr ich, daß es ab Grimma am Ostufer der Mulde eine Bahnlinie gäbe, mit der man nach Wurzen käme. Ich machte mich also auf den Weg nach Norden immer am Ufer der Zwickauer Mulde entlang.

Unterwegs sah ich überall Wegweiser mit kyrillischen Buchstaben. In den meisten Fällen waren sie über oder unter den deutschen Wegweisern angebracht. Ich wußte also, welche Ortsnamen auf diesen neuen Schildern standen, und erfaßte sehr schnell des System der kyrillischen Schrift. Manchmal waren auch nur kyrillische Wegweiser vorhanden; da ich aber sehr schnell gelernt hatte, was diese Buchstaben bedeuten, konnte ich mich auch nach diesen richten.

Dann ging es am östlichen Ufer der Zwickauer Mulde nach Norden zum Zusammenfluß mit der Freiberger Mulde bei Kleinsermuth und von dort aus weiter bis auf die Ostseite von Grimma. Der Bahnhof der Strecke, die nach Wurzen führte, war bald gefunden, und es fuhren tatsächlich zwei Züge täglich dorthin. In Wurzen angkommen erfuhr ich, daß man von dort bis Riesa an der Elbe weiterfahren konnte. Ich kaufte mir also eine Fahrkarte nach Riesa und wartete mit vielen anderen auf den Zug. Einen festen Fahrplan gab es nicht; der Verkehr richtete sich nach dem Bedarf. Als der Zug aus Riesa ankam, wude solange gewartet, bis er voll war. Dann ging es im Zuckeltrab über Wurzen und Oschatz zu unserem Zielbahnhof. Dort ging es nicht weiter, denn die Eisenbahnbrücke lag in der Elbe.

In Riesa war bereits Sperrstunde; wir durften das Bahnhofsgebäude nicht verlassen. Jeder suchte sich eine Ecke zum Schlafen. Ich fand gerade noch einen Platz auf einem der damals üblichen kleinen achteckigen Tische vor einem Fahrkartenschalter, auf dem ich dann die Nacht sitzend oder hockend verbrachte. Am nächsten Morgen, als wir das Bahnhofsgebäude verlassen durften, besorgte ich mir zunächst die üblichen Reisemarken, kaufte mir ein Stück Brot und ein Stück Wurst und informierte mich über die "Verkehrssituation". Ich erfuhr, daß die Straßenbrücke ebenfalls in der Elbe lag. Neben der Brücke - etwas elbaufwärts - gab es jedoch eine Übersetzmöglichkeit per Kahn. Als der Kahn voll war, wurde er durch Staken und Rudern auf die andere Seite gebracht. Dann ging es nach Röderau zum Bahnhof. Zugverkehr gab es jedoch nicht; ich erfuhr aber, daß ab Falkenberg/Elster Züge in Richtung Jüterbog fahren sollten. Also hieß es, nach Falkenberg zu laufen. Unterwegs fing es an zu regnen. Weit und breit gab es weder Häuser noch Scheunen. Also lief ich im Regen weiter. Unterwegs holte ich mir für meine Reisemarken wieder etwas Brot und Wurst und marschierte dann weiter. Am Abend kam ich dann in Falkenberg an. An diesem Tage hatte ich 45 km im Nieselregen zurückgelegt.

Das Eisenbahngelände in Falkenberg/Elster ist riesig. Dort treffen die Bahnlinien Leipzig - Cottbus, Jüterbog - Bad Liebenwerda - Elsterwerda, Wittenberg - Falkenberg sowie Beeskow - Lübben - Falkenberg zusammen. Doch auch dort gab es die abendliche Sperrstunde. Am Rand des Bahngeländes standen ein paar Schuppen - und dorthin machte ich mich auf den Weg.

Sämtliche Schuppen waren "bewohnt" - allerdings immer nur für eine Nacht, bis der Zug nach Wittenberg, der dann weiter nach Jüterbog fahren sollte, sich in Bewegung setzte. Ein paar Flaschen Rotwein - wo die herkamen, weiß ich nicht - machten die Runde, und dann wurde mir eine Zigarre angeboten, eine echte Havanna! Und ich ließ mich aus purer Neugier verleiten. Der Effekt war dramatisch. Mir wurde speiübel und ich mußte mehrmals in der Nacht den warmen Schuppen verlassen. Doch dieser Effekt hatte für mich eine äußerst segensreiche Wirkung: ich habe seitdem einen unüberwindlichen Abscheu gegen Nikotinqualm und habe niemals mehr in meinem Leben geraucht.

Am Morgen, als es hell wurde, wurde der Zug nach Wittenberg gestürmt. Und dann setzte sich der Zug endlich in Bewegung. In Wittenberg stieg kaum jemand aus oder ein; sämtliche Fahrgäste wollten offensichtlich weiter nach Berlin. Rückwärts ging es dann wieder aus dem Bahnhof hinaus und von dort im Schrittempo weiter. Die Signale an der Bahnstrecke waren nicht in Betrieb; der Lokführer konnte nur auf Sicht fahren. Mittags kamen wir dann in Jüterbog an. Dort mußte der Zug auf den Gegenzug aus Berlin warten. Mit einigen Stunden Aufenthalt war zu rechnen. Ich nutzte die Zeit, um in die Stadt zu laufen, mir im Rathaus Lebensmittelmarken zu holen und mir damit zwei frische Brötchen und ein kleines Stück Wurst zu holen. Als ich zurückkam, hatte ich große Mühe, mein Abteil wieder zu finden. Mein Platz war natürlich längst besetzt, aber die Hauptsache war, daß ich im Zug war, als sich dieser wieder in Bewegung setzte.

Am späten Nachmittag kam der Zug in Berlin-Lankwitz an. Weiter ging es nicht, denn die Eisenbahnbrücke über die Leonorenstraße lag unten auf dem Straßendamm. Der weitere Weg mußte also zu Fuß zurückgelegt werden. Da ich von jeher ein gutes Ortsgedächnis hatte (und auch heute noch habe) und immer genau wußte, wo ich mich befand, ging ich also zuerst in Richtung Lankwitz Kirche bis zur Kaiser-Wilhelm-Straße und von dort aus in Richtung Norden. Als ich am Teltowkanal ankam, sah ich, daß auch diese Brücke zerstört war. Sie war in den letzten Kriegstagen gesprengt worden; man konnte aber auf der einen Seite hinunterturnen und auf der anderen Seite wieder hochklettern. Dann ging es weiter über die Attilastraße, die Manteuffelstraße, die Manfred-von-Richthofen-Straße und die Belle-Alliance-Straße (jetzt Mehringdamm) bis zum Halleschen Tor, wo die Brücke über den Landwehrkanal ebenfalls zerstört war. Doch dieses Hindernis zu überwinden war nicht schwer. Der Landwehrkanal hatte kaum Wasser, denn dieses war in den von der SS gesprengten S-Bahn-Tunnel, der am U-Bahnhof Gleisdreieck den Landwehrkanal unterquerte, geströmt. Dann ging es die Gitschiner Straße entlang weiter in Richtung Osten. Doch die Sperrstunde rückte immer näher, und da blieb mir nichts anderes übrig, als mich nördlich bis zum Schlesischen Bahnhof durchzuschlagen. Ich kam noch rechtzeitig an; dort konnte man vom Roten Kreuz einen Teller heiße Suppe bekommen und dann hockte ich mich in eine Ecke und verbrachte so die Nacht. Als es dann wieder hell wurde, ging der Weg weiter bis zur Kopernikusstraße. Zu meiner großen Erleichterung stand das Haus noch. Unten im Hausflur traf ich eine Mieterin, eine Frau Hepke, die bei der AEG als Buchhalterin tätig war. Sie sagte mir, daß meine Mutter jetzt eine Etage tiefer wohnte. Ich eilte die Treppe hinauf, fand das Namensschild und klopfte. Die Tür öffnete sich und meine Kriegs-Odyssee war zu Ende.