Die Nachkriegszeit


Das Haus stand noch und war nur wenig beschädigt. Meine Mutter und meine Großmutter Mathilde, deren eigene Wohnung in der Pintschstraße zerbombt war, wohnten jetzt ein Stock tiefer, da die Wohnung meiner Mutter beschädigt war und in der Decke Löcher waren, durch die man den Himmel sehen konnte. Von den Mietern waren einige verschwunden, so der Kürschnermeister Willy Schwutke mit seinen Dobermännern und die Familie Bachmann, die sich im "Dritten Reich" sehr hervorgetan hatte.

Nach ein paar Tagen machte ich mich auf den Weg zu meiner Großmutter Elisabeth und meiner Tante Charlotte. Einen großen Teil der Strecke mußte ich laufen. Bei der U-Bahn waren nur die westlichen Strecken nach Krumme Lanke und nach Ruhleben in Betrieb, aber auch das nur mit Unterbrechungen. In der Tauentzienstraße und an mehreren anderen Stellen hatten Bomben die Tunneldecke durchschlagen. Die Trümmer lagen auf den Gleisen und blockierten jeden Verkehr. Dazwischen gab es - nicht immer - Pendelverkehr. Eine Reise von der Warschauer Straße zum Rüdesheimer Platz dauerte somit einen ganzen Tag.

Auch die Wohnung meiner Großmutter und meiner Tante Charlotte in der Rüdesheimer Straße 17 war stehengeblieben. Allerdings hatten einige Wände Risse von oben bis unten. Da die Zentralheizungsanlage defekt war und es außerdem keinen Koks gab, hatten die Mieter sich gußeiserne Öfen ("Allesbrenner") angeschafft und die Rauchrohre in die Entlüftungsschächte geführt. Da es auch kein Gas gab, waren nahezu auf jedem Balkon kleine Kochstellen aus Ziegelsteinen gebaut worden. Elektrischen Strom gab es nur stundenweise.

Meine Tante Charlotte fand sehr schnell wieder eine Arbeit . Die Behörden - in diesem Falle das Bezirksamt Wilmersdorf - suchten Mitarbeiter, die politisch "unbelastet" waren. Und meine Tante, die diese Voraussetzungen erfüllte und sogar Ministeriums-Erfahrung hatte, war daher hochwillkommen. Und da sie niemals Mitglied in der NSDAP oder einer der angeschlossenen Organisationen gewesen war, wurde sie in die bezirkliche "Entnazifizierungskommission" als Protokollführerin delegiert. Und sie sah mit einem gewissen Vergnügen, wie alle diejenigen in der Nachbarschaft, die früher immer nur in SA-Uniform umhergelaufen waren, niemals etwas von Konzentrationslagern und Gaskammern gehört haben wollten und nunmehr ganz klein und häßlich ohne ihre geliebte Uniform waren.

Mitte Juni 1945 wurde in der Andreas-Oberschule in der Koppenstraße (am Ostbahnhof) der Schulbetrieb aufgenommen. Da die Altköllnische Schule in der Inselstraße weitgehend durch Bomben zerstört war, blieb keine andere Möglichkeit des Schulbesuchs. Nach und nach fanden sich auch die meisten Schulkameraden ein, die mit mir in der Tschechoslowakei gewesen waren. Das Leben normalisierte sich ganz langsam. Der Schwarzmarkt blühte und jeder tauschte mit jedem die unmöglichsten Dinge, um an Lebensmittel, Kaffee oder Zigaretten zu kommen. Die Ehe der schon genannten Erna D. ("was denn, noch 'ne Tante?"), die mit einem - jetzt arbeitslosen - ehemaligen Berufs-Offizier verheiratet war, ging in die Brüche. Ihr neuer Ehepartner, der in einer riesigen Wohnung in der Martin-Luther-Straße 47 (dicht am Innsbrucker Platz) residierte, hieß Adolf Schure. In der Mitte der Wohnung war ein großes Durchgangszimmer mit einem Fenster in der Ecke, ein sogenanntes ,,Berliner Zimmer". In der Wand mit dem Fenster befand sich ein kleines Türchen, das zu einer kleinen Nebenwohnung führte. Wahrscheinlich war diese Nebenwohnung für das in herrschaftlichen Haushalten obligatorische Dienstmädchen gedacht. In dieser Wohnung lebte eine Person, von der immer nur als "Tante Agathe" gesprochen wurde. Ich selbst hatte sie nie zu Gesicht bekommen. Sie hatte wegen ihrer im ,,Dritten Reich" unerwünschten Abstammung mehrere Jahre in Theresienstadt verbringen müssen, hatte aber Glück gehabt. Tante Agathe hatte den ungeheuren Vorzug, einen Sonderausweis zu besitzen, mit dem man in speziellen Läden koscheres Fleisch kaufen konnte, und zwar praktisch ohne Rationierung. In den schlimmen Jahren 1946 und 1947 war das eine riesige Hilfe. Egal, was war: wenn man zu Familie Sch. kam, wurde man immer gut bewirtet und reichlich verpflegt.

Der Familie Sch. ging es also - gemessen an der normalen Bevölkerung - außerordentlich gut. Adolf Sch. war im Krieg Ingenieur bei Telefunken gewesen, und bei ihm und durch seine Bibliothek mit einer riesigen Bestand von technischen Büchern und Zeitschriften - darunter mehrere von einem gewissen Manfred von Ardenne - lernte ich unter anderem, wie man Radioapparate repariert und konstruiert. Auch vermittelte er mir Reparaturen von Radioempfängern, die ich mir dann in Naturalien bezahlen ließ, und zwar meist in Mehl, Butter, Speck, Kartoffeln und Eiern. Einer meiner "Kunden" war ein Radiomechanikermeister namens Schlüsselmann in Dabendorf, etwa 30 km südlich von Berlin. Man mußte mit der S-Bahn, die nach Kriegsende sehr schnell wieder instandgesetzt worden war, bis Rangsdorf fahren und dann in einen dampfgetriebenen Vorortzug umsteigen. Dort erledigte ich die schwierigen Fälle. Als Entlohnung bekam ich dann jedesmal einen Beutel Weizen- oder Maismehl.

Durch diese "Geschäftstätigkeit" hatten wir sehr häufigen - manchmal täglichen - Kontakt. Ich lernte auch Adolfs Schwester kenne, die mit einem gewissen Egon Balder verheiratet war. Den gemeinsamen Sohn Hugo-Egon B., der vielen Fernsehzuschauern ein Begriff sein dürfte, kenne ich noch als Kleinstkind.

Die 1-Zimmer-Wohnung in der Kopernikusstraße 6 war für uns vier Personen - meine Mutter, mein aus dem Kriege zurückgekehrter Stiefvater Fritz, meine Großmutter Mathilde und ich - zu eng. Wir benötigten dringend eine größere Wohnung. Es ergab sich die Möglichkeit eines Wohnungstausches im selben Hause. Der Malermeister Willy Kuhnke, der mit Frau und Tochter im vierten Stockwerk eine geräumige 2-Zimmer-Wohnung mit Mädchenkammer bewohnte, war überraschend an einem Blutsturz vor der Haustür gestorben. Die Tochter Gerda war zu ihrem Lebensgefährten Lebensgefährten Herbert Schön nach Berlin-Wilmersdorf gezogen. Seiner Witwe Frieda war die Wohnung zu groß; zudem gab es eine rigorose Wohnraumbewirtschaftung. Hätte Frau Kuhnke die Wohnung behalten, wäre ihr vom Wohnungsamt auf jeden Fall ein Untermieter hineingesetzt worden. Der Gedanke lag nahe, die Wohnungen zu tauschen, sodaß mein Stiefvater Fritz, meine Großmutter Mathilde. meine Mutter und ich in die Wohnung mit den großen Räumen zogen.

Dann gab es einen Mord. Frau Kuhnke wurde von ihrerTochter in ihrer neuen Wohnung mit tödlichen Kopfverletzungen aufgefunden. Die Polizei hatte schnell einen Schuldigen bei der Hand: den Lebensgefährten der Tochter. Es gab einen Indizienprozeß in Moabit. Herbert Schön wurde zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt, weil ihm die Tat zugetraut wurde. Und sie wurde ihm deshalb zugetraut, weil er im Kriege desertiert war, meinten die Richter. Die Rechtsanwälte Herbert Schöns hatten später eine Wiederaufnahme des Verfahrens beantragt, aber das Gericht wich nicht von seinem ersten Urteil ab. Herbert S. mußte 15 Jahre absitzen.

Doch nun zurück zu Familie Sch. in der Martin-Luther-Straße 47. Eines Tages war dort ein Hund im Haus. Es war eine kleine weiße Seidenspitz-Hünden, die auf den Namen Motte hörte. Wenn sie nicht schlief, kläffte sie unaufhörlich. Auch ich wurde angekläfft. Keiner wußte, warum. Wahrscheinlich wußte die Hündin selbst nicht, warum sie dauernd bellte. Sehr alt ist die kleine Hündin nicht geworden. Nach ein oder zwei Jahren wurde sie sehr passiv. Sie fing an zu husten und bekam schließlich regelrechte Asthma-Anfälle. Medikamente gab es damals kaum und solche für Tiere überhaupt nicht. Die Tante Erna bemühte sich rührend, mit Kamillendämpfen und anderen Mitteln die Hustenanfälle der kleinen Hündin zu lindern. Als ich dann eines Tages kam, war alles still. Über Motte wurde nie mehr gesprochen.


Inzwischen war ich im Herbst 1946 aus familiären Gründen zu meiner Tante Charlotte - der Schwester meines 1944 im Krieg gefallenen Vaters - und zu meiner Großmutter Elisabeth nach Wilmersdorf gezogen. Die Ursachen lagen sowohl in der Schule als auch in der Familie.

Im KLV-Lager "Kinder-Land-Verschickungs-Lager") hatten wir u.a. sehr gute Lehrer für Englisch für Mathematik, für Physik und für Chemie gehabt. Der Schulunterricht in der Andreas-Oberschule kam mir gegenüber dem, was ich bereits beherrschte, ziemlich zurückgeblieben vor. Meine neuen Schulkameraden hatten sehr bald gemerkt, daß man sich von mir vorsagen lassen konnte und von mir abschreiben konnte, und so versorgte ich praktisch die ganze Klasse mit den entsprechenden Informationen.

Ein Schul-Ereignis ist mir noch in Erinnerung. Da auch von dieser Schule ein Teil des Gebäudes zerstört war, mußte mehrere Monate lang der Unterricht in den Luftschutzkellerräumen stattfinden, also ausschließlich bei elektrischem Licht.

In der Nähe der Schule befand sich das obligatorische Schreibwarengeschäft, in dem man auch Spielwaren und Scherzartikel kaufen konnte. Und da gab es etwas ganz Besonderes: flache scheibenförmige Körper, die in Lampenfassungen paßten. Brachte man eine dieser Scheiben zwischen der Glühlampe und dem Mittelkontakt in der Fassung an, mußte der Strom durch die Scheibe fließen. Durch die Erwärmung wurde dann der Stromfluß unterbrochen; die Lampe wurde dunkel. Nach ein paar Sekunden war die Scheibe soweit abgekühlt, daß sich der Kontakt wieder schloß und die Lampe dadurch wieder eingeschaltet wurde. Die Lampe blinkte also unaufhörlich.

Wir fingen mit einer der vier kugelförmigen Lampen an, die sich in dem Raum befanden. Der Lehrer wurde nervös, aber der Unterricht wurde fortgesetzt. Als die Stunde zu Ende war und der Lehrer verschwunden war, entfernten wir schnell den Unterbrecher, und als dann der Hausmeister kam und nach der "defekten" Lampe sehen wollte, wurde natürlich kein Fehler gefunden. Bei der nächsten Unterrichtsstunde, die wir bei diesem Lehrer hatten, blinkten dann schon zwei Lampen. Da die Blinkgeschwindigkeit nicht ganz identisch war, ergaben sich tolle Effekte vom synchronen Blinken bis zum abwechselnden Blinken. Wieder rannte der Lehrer weg, um den Hausmeister zu holen, doch bis jemand kam, hatten wir die Störenfriede schon wieder entfernt. Natürlich sprach der betreffende Lehrer im Lehrerkollegium über diese seltsamen Erscheinen, aber da diese Erscheinungen nur von ihm - und von keinem der anderen Lehrer - beoabachtet worden waren, dachten die anderen Lehrer, er sei wohl nicht ganz richtig im Kopf.

Der Höhepunkt war erreicht, als alle vier Lampen blinkten, jede in ihrem eigenen Rhythmus. Der Lehrer lief laut weinend aus dem Raum und bekam einen Nervenzusammenbruch. Er weigerte sich fortan, die Kellerräume zu betreten. Wir haben die Unterbrecher niemals wieder eingesetzt, denn wenn wir das Spiel auch bei anderen Lehrer getrieben hätten, wäre der betroffene Lehrer rehabilitiert, und das wollten wir auf keinen Fall.

Zurückblickend erscheint mir die damalige Handlungsweise gegenüber diesem Lehrer - einem Dr. Schröder , genannt "Moppel" - ziemlich grausam, doch sie geschah nicht ganz ohne Grund. Dieser "Moppel" unterrichtete Musik. Ob er wirklich musikalische Kenntnisse hatte, entzieht sich meiner Kenntnis. Er gehörte zu der Spezies von Lehrern, die keinen Überblick über das Leistungsvermögen ihrer Schüler hatten, die einerseits unbegabte Lieblinge bevorzugten und andererseits diejenigen, die verstanden hatten, worum es im Unterricht überhaupt ging, einfach ignorierten. Wenn ein Lehrer keine Autorität hat, ist das schon schlimm. Wenn ein Lehrer aber dauernd seine pädagogische Inkompetenz zur Schau stellt, dürfte es verständlich sein, wenn die von diesem Lehrer stets benachteiligten und abgewerteten Schüler sich wehren.

Im Unterricht gab es - für mich - keine Probleme. Nur mit Latein war es schwierig, da die Altköllnische Schule zwei Jahre später als die Andreas-Oberschule damit begann. Mir - und einigen anderen - fehlten dadurch zwei Jahre in diesem Fach. Doch in allen anderen Fächern konnten die anderen von mir abschreiben.

Im Herbst 1946 fand eine Elternversammlung statt, wobei meine Mutter meinem Klassenlehrer erzählte, daß ich faul sei, niemals Schularbeiten mache und ähnlichen Unfug. Der Erfolg war, daß ich "sitzenblieb" und nicht - wie alle anderen - in die nächste Klasse versetzt wurde. Es gab zu Hause einen Riesenkrach und ich zog aus zu meiner Tante Charlotte und meiner Großmutter Elisabeth, die immer noch in Wilmersdorf in der Rüdesheimer Straße wohnten.

Meine Großmutter Elisabeth starb am 8. Januar 1947, sodaß meine Tante und ich die Wohnung für uns allein hatten. Das Verhältnis zu meiner Mutter hatte sich nach einer Weile wieder eingerenkt. Ich blieb jedoch bei meiner Tante wohnen, da ich nun in Friedenau auf der Rheingau-Schule war und dort das Abitur machen wollte.

Wie willkürlich die Bewertungen in den Schulen waren, sieht man hier an einer Kleinigkeit. Die Lehrpläne an den Schulen waren einheitlich; allerdings traten zeitliche Verschiebungen zwischen den einzelnen Schulen auf. So wurde in der Andreas-Oberschule ein bestimmtes Aufsatzthema gestellt. Ich hatte bei diesem Aufsatz etwas mit der Sprache jongliert und hatte das Thema nach dem Vorbild Thomas Manns in wenigen ellenlangen Schachtelsätzen abgehandelt. Ich bekam eine "5", also "ungenügend". Als ich dann in der Rheingau-Oberschule war, kam das gleiche Thema an die Reihe. Ich schrieb meinen alten Aufsatz noch einmal, ohne die geringste Änderung, und bekam eine "1", also "sehr gut" für eine überlegene Sprachgestaltung.

Durch diesen Umzug vom Bezirk Friedrichshain in den Bezirk Wilmersdorf wurde ich bei der Spaltung der Stadt im Jahre 1948 zum West-Berliner, wahrend meine Mutter und meine Großmutter Mathilde in Ost-Berlin blieben.

Meine Verwandten aus Klein-Küdde waren mit ihrem Holzgas-Lkw noch rechtzeitig vor Kriegsende geflüchtet und waren solange gen Westen gefahren, bis sie die britische Besatzungszone erreicht hatten. In Schönberg (Mecklenburg) fanden sie dann Zuflucht in einem alten Gesindehaus, das auf dem Hof eines Fuhrunternehmers Vock stand. Eines schönen Tages fuhren lange Kolonnen von britischen Militärfahrzeugen durch die Stadt in Richtung Westen Am nächsten Tag kamen lange Kolonnen von sowjetischen Militärfahrzeugen aus Richtung Osten an. Die Briten hatten die von ihnen eroberten Teile von Mecklenburg geräumt und an die Sowjetunion abgetreten. Hätten die Flüchtlinge vorher gewußt, wie die Grenze verlaufen würde, dann wären sie die paar Kilometer weiter über Selmsdorf und Schlutup bis nach Lübeck gefahren.

Mit dem geretteten Holzgas-Lkw konnte dann das Fuhrgeschäft mit Transporten aller Art wieder angekurbelt werden. Die dort ansässige Fuhrunternehmer-Familie besaß einen Omnibus und betrieb Personenverkehr zwischen den dortigen Bahnhöfen und den Dörfern an der nahen Ostsee. Diese Verbindungen führten zu weiteren Verbindungen und beiden Familien ging es dadurch relativ gut. Tante Tine hatte ein eigenes kleines Kämmerchen und Kurt hatte mit seiner aus Rheinland-Pfalz stammenden Frau Wilhelmine (genannt "Helmi") auf der anderen Seite der Straße ein Unterkommen gefunden. Meine Großcousine Friedel heiratete den Sohn des Fuhrunternehmers, "Hanne" (eigentlich Hans-Joachim), und zog um in das Vorderhaus. In der schlimmen Zeit 1946 bis 1948 war ich oft dort. Am Anfang bekam ich von meinen Verwandten einen großen Sack Kartoffeln, doch dann entwickelte sich eine Art Geschäft. Ich bekam Kontakt mit dem einzigen örtlichen Radiogeschäft, besorgte Ersatzteile aus Berlin und führte solche Reparaturen aus, bei denen die ortsansässigen Techniker nicht weiterwußten. Bald kannte ich die Reihenfolge sämtlicher Eisenbahnstationen zwischen Berlin Lehrter Bahnhof und Schönberg (Mecklenburg) auswendig, und zwar sowohl vorwärts als auch rückwärts.

Natürlich wollte ich meine durch viele Reparaturen erworbenen praktischen Kenntnisse auch verwerten. Mit einem Mitschüler der Rheingau-Schule - einem Peter B. - , der in der Rüdesheimer Str. 13 wohnte, gründete ich eine "Firma", ein Zwei-Mann-Unternehmen. Wir wollten Radioapparate bauen, denn es gab damals eine riesige Marktlücke. Natürlich sollten es keine "Volksempfänger", mit denen man nur zwei oder drei Sender hören konnte sein, sondern richtige professionelle "Superheterodyn-Empfänger", wie die offizielle Bezeichnung lautete. Material gab es damals in Berlin in Hülle und Fülle aus Wehrmachtsbeständen; also das war nicht das Problem. Peter B. und ich teilten uns die Arbeit auf: er war für den Mechanik-Teil verantwortlich und ich für den Elektronik-Teil. Natürlich sollten es keine Wald- und Wiesenempfänger sein, sondern Qualitätsprodukte. Ich machte also ein Konzept mit einem Vierfach-Drehkondensator (abgestimmter Eingangskreis, dann eine Verstärkerstufe, dann ein abgestimmtes Zwischen-Bandfilter und schließlich Oszillator und Mischstufe). Die Zwischenfrequenz-Selektion erfolgte durch zwei Dreikreis-Bandfilter. Im Tonfrequenzteil wandte ich eine starke frequenzabhängige Gegenkopplung an; der Frequenzgang wurde praktisch nur noch von der Gegenkopplung bestimmt. Das Ergebnis war ein sehr sauberer und klirrarmer Klang. Nachdem das erste Gerät verkauft war, kamen sofort die Bestellungen. Wir ackerten beide Tag für Tag und teilweise auch Nacht für Nacht und wurden die Geräte immer im Handumdrehen los.

Dann kam die Währungsreform. Doch während in Westdeutschland sofort die Wirtschaft aufblühte, verlief die Geschichte in Berlin ganz anders. Es gab die Blockade. Wir hatten zwar nun das neue Geld, aber es gab nur wenig zu kaufen. Die Lebensmittel waren nach wie vor rationiert. Bei der Produktion unserer Radioapparate gab es Schwierigkeiten, da es nur stundenweise elektrischen Strom gab. Es mußte viel gebohrt und viel gelötet werden, und das ging nun einmal nur, wenn es Strom gab.

Nach der Beendigung der Blockade begann nun auch im West-Teil der Stadt Berlin das sogenannte "Wirtschaftswunder". Doch nun hatten wir eine Konkurrenz. In vielen Geschäften tauchten auf einmal fertig vorbereitete Bausätze für einen Radioapparat auf. Das Produkt, das den Namen "Heinzelmann" trug, war allerdings erheblich primitiver als unsere ausgeklügelte Schöpfung. Hersteller war ein gewisser Max Grundig aus Fürth in Bayern. Dadurch ging natürlich die Nachfrage nach unserem Gerät zurück. Außerdem kam ich nun doch in zeitliche Bedrängnis, da die Abitur-Prüfung immer näher rückte. Um mit Max Grundig mithalten zu können, hätte man sehr viel Zeit (und Geld) investieren können, und beides hatten wir nicht. Also schlief die Produktion ein.

Aber auch im Ost-Teil der Stadt ging es aufwärts, wenn auch langsamer. Dafür waren die kulturellen Ereignisse im Ostteil der Stadt sehr beachtlich. Die Kontakte der Verwandten blieben über die Ost-West-Grenze hinweg natürlich aufrechterhalten. Im Jahre 1951 gab es einen Notfall. Meine Großcousine Trude H. in Schönberg (Mecklenburg) hatte sich bei den Vertretern der Staatsmacht unbeliebt gemacht; ich weiß nicht, ob Geschäfte über die nahegelegene Grenze die Ursache waren oder ob sie sich bei unpassender Gelegenheit den Mund verbrannt hatte. Nach einer Warnung in letzter Minute flüchtete sie an einer damals noch wenig bewachten Stelle der Grenze nach Lübeck, wo sie bei Verwandten von Verwandten aus Klein-Küdde Unterschlupf fand. Sie hatte alle ihre persönlichen Sachen wie Papiere, Kleidung und Bettzeug zurücklassen müssen. Von den Verwandten in Schönberg konnte keiner helfen; denn ein Ausreisevisum nach dem Westen zu bekommen, war schwierig; außerdem wurde bei Reisen in den Westen das Gepäck von DDR-Bewohnern peinlichst genau kontrolliert. Hätte sich meine Großcousine Friedel mit großen Kleiderbündeln beladen, dann wäre sie an der Grenze sofort aufgefallen und entweder zurückgewiesen oder gleich einstweilen festgenommen worden wegen "beabsichtigter Republikflucht".

Wer auf die Idee gekommen war, daß ich helfen könnte, weiß ich nicht. Damals brauchten West-Berliner, die nach Westdeutschland fahren wollte, einen ,,Interzonenpaß". Dieser war eine Bescheinigung, die für eine einmalige Hin- und Rückreise gültig war und vom Magistrat bzw. von den Bezirksämtern in Berlin (West) ausgegeben wuAußerdem mußte h noch ein Stempel der britischen Besatzungsmacht eingeholt werden. Bei solchen Interzonen-Reisenden wurde das Gepäck beim Grenzübergang kaum kontrolliert. Ich war die einzige Person in der Verwandtschaft, die die Vorausstzungen - Wohnsitz in Berlin (West) - besaß sowie Mut und Zeit - es waren gerade Semesterferien - hatte, dieses Vorhaben durchzuführen. Ich erklärte mich natürlich sofort bereit, denn meine Verwandten in Schönberg und vor allem Trude hatten mir in den Jahren von 1946 bis 1948 schließlich sehr geholfen. Ich besorgte mir also einen Interzonenpaß, setzte mich mit zwei nahezu leeren Koffern in die Bahn und fuhr nach Schönberg. Dort wurden meine Koffer blitzschnell mit Trudes Sachen gefüllt, meine eigenen wenigen Alibi-Wäschestücke wurden oben drauf gelegt, ich wurde per Auto zum Bahnhof Herrnburg gebracht, wo der Zug, mit dem ich aus Bad Kleinen nach Schönberg gefahren war, auch gerade angekommen war, mischte mich unter die aussteigenden Fahrgäste und ging dann zur Grenzkontroll-Baracke. Es ging alles gut, die Stempel der Grenzkontrolle hinter Berlin stimmten und ich durfte anstandslos passieren. Auf der anderen Seite der Grenze - in Lübeck-Eichholz - standen Lübecker und Hamburger Busse; ich fragte mich durch und war bald am Ziel, einem Einfamilienhaus am Stadtrand. Meine Großcousine, die erst bezweifelt hatte, ob ich für eine solche Aktion die Nerven hätte und bereit wäre, mich derart zu engagieren, freute sich natürlich riesig Ich wurde gut bewirtet, es wurde viel erzählt und schließlich übermannte mich die Müdigkeit Mir wurde mein Nachtlager auf der Couch in einem der Zimmer zugewiesen, ich legte mich drauf und war sehr bald eingeschlafen. Es war warm und das Fenster blieb offen.

Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen hatte, ob es Minuten oder Stunden waren. Die Couch erbebte und ich wurde von etwas Großem und Schwerem an die Wand geschoben. Ich fühlte ich etwas Warmes und Weiches neben mir. Da ich nicht wußte, ob ich träume oder wache, drehte ich mich auf die andere Seite und schlief weiter. Als ich im Morgengrauen wach wurde, sah ich, daß ein kapitaler Schäferhund-Rüde neben mir unter der Decke lag. Er war noch sehr müde, legte sich in eine andere Stellung und schlief weiter. Ich auch. Dann wurde ich wieder durch Küchengeräusche geweckt. Mein Bettgenosse räkelte sich, kroch unter der Decke hervor und sprang auf den Fußboden. Ich hörte, wie er Wasser schlabberte. Dann nahm er einen kleinen Anlauf und sprang elegant durch das offene Fenster ins Freie, wo er über ein Stück Feld lief, um in dem anschließenden Wäldchen sein Geschäft zu verrichten. Beim Frühstück war er dann wieder da. Meine Großcousine Trude fragte trocken, wie ich mich mit Harro verstanden hätte. Ich gab zur Antwort ,,gut" und die Sache war erledigt. Ich blieb noch einen Tag, um mir Lübeck anzusehen, verbrachte eine weitere Nacht mit Harro und machte mich wieder auf den Weg zum nahegelegenen Grenzkontrollpunkt. Vom Bahnhof Herrnburg fuhr ich die zwei Stationen bis Schönberg und war dann bei den dort gebliebenen Verwandten. Am nächsten Tag wurde die Rückfahrt organisiert. Damals führte die Transitstrecke zwischen Berlin und Hamburg noch nicht über Horst/Lauenburg, sondern über Schwerin-Rehna - Schönberg-Herrnburg - Lübeck. Die meisten Spediteure, die auf ihren Fahrten nach und von Hamburg daher immer durch Schönberg und Herrnburg fahren mußten, waren mit meinen Verwandten bekannt. Wie die Informationen übermittelt wurden, weiß ich nicht; jedenfalls hielt ein Lastzug vor dem Haus, der Fahrer hupte, ich stieg ins Fahrerhaus und wurde nach Berlin mitgenommen. Da 1951 die DDR noch von Einwohnern aus Berlin-West ohne Formalitäten betreten werden konnte (man mußte nur seinen Personalausweis an der Grenze vorweisen), wurde auch der Interzonenpaß mit dem Datumstempel der Rückreise nicht mehr benötigt. Alles war gut gelaufen.

Am nächsten Tag beantragte ich in Berlin wieder einen Interzonenpaß und die Aktion wurde wiederholt. Jedesmal war Harro mein Schlafgenosse; es gefiel ihm offensichtlich, beim Schlafen Gesellschaft zu haben, und mir war es auch nicht unangenehm. Einmal wurden in Herrnburg von einem sehr eifrigen DDR-Grenzer meine Koffer kontrolliert. Auf Grund des Inhaltes wurde er mißtrauisch und schickte mich zurück. Ich stellte mich hinten an die Schlange, hatte aber das Pech, wieder an denselben Kontrolleur zu geraten. Als dann ein Reisebus aus Berlin ankam und alle Fahrgäste aussteigen mußten, mischte ich mich unter sie und fiel bei der Kontrolle nicht mehr auf. Beim nächsten Mal ging wieder alles glatt. Schließlich waren alle Sachen transportiert und die Aufgabe erfüllt. Trude blieb nicht in Lübeck, sondern zog in die Nähe ihres inzwischen auch ausgewanderten Bruders Kurt nach Kaiserslautern. Ich habe weder Harro noch meine Großcousine Trude wiedergesehen. Sie starb im Jahre l975.

Die größten Familientreffen in der Zeit zwischen der Währungsreform und dem Mauerbau fanden in der Regel am 14. Januar bei meiner Großtante, die ein Haus in der Rotdornallee7 in Berlin-Mahlsdorf besaß, statt. Bei einem dieser Geburtstage brachte meine Großcousine Erna Dölz (eine Nichte der Erna mit der Motte) ihren neuen Freund und einen schwarzen Königspudel mit, der auf den Namen Bango hörte. Und eine der acht Cousinen meiner Mutter, Alwine, hatte auf einmal eine rote Langhaarteckelhündin namens Dixi.

Meine Mutter schloß sich dann der Gesellschaft der Hundebesitzer an. Mittwochs fuhr ich regelmäßig zu meiner Mutter und Großmutter; das war für mehr als ein Jahrzehnt Tradition. Eines Tages wurde ich von einer schwarzroten großen Yorkshireterrier-Hündin (so etwas gab es auch einmal) begrüßt. Das war Hexe. Sie stammte von einem Züchter in Buckow in der Märkischen Schweiz. Mit Hexe war sofort Freundschaft geschlossen, und wenn ich mittwochs kam, wartete Hexe schon im Korridor auf mich. Sie war artig, blieb am Bürgersteig stehen und folgte mir auf der Straße auf Schritt und Tritt. Wenn man sagte: ,,Hexe, lauf", dann trabte sie bis zur nächsten Straßenecke und wartete dort auf mich. Mein Stiefvater Fritz hatte sich ein Spielchen ausgedacht. Immer, wenn er sagte: ,,Die Hexe ist dick" oder ,,der dicke fette Hund", wurde Hexe maßlos wütend und fletschte die Zähne, sodaß man Angst bekommen konnte. Sie hat aber niemals richtig zugebissen.

Einmal entdeckte meine Mutter in Hexes Häufchen Bandwurmglieder, die sich bewegten. Sie fuhr zur Tierklinik des Tierschutzvereins. Dort bekam Hexe ein Medikament, das nach einem halben Tag wirken sollte. Wenn der Bandwurm herauskäme, sollten wir darauf achten, ob auch der Kopf dabei sei. Meine Mutter wartete schon auf mich, denn sie ekelte sich fürchterlich vor dem Bandwurm. Hexe war schon unruhig, als ich kam. Ich ging mit ihr auf die Mittelpromenade in der Warschauer Straße, wo sie unter einer Bank verschwand und einen krummen Rücken machte. Schließlich kam der ganze Bandwurm in einem einzigen Stück heraus. Ich konnte aber nicht erkennen, ob der Kopf dran war oder nicht. Ich nahm deshalb ein Stöckchen, schob es unter die Mitte des Bandwurms, hob so den Schmarotzer auf und ging mit Hexe an der Leine in der einen Hand und dem herunterbaumelnden Bandwurm in der anderen Hand wieder in das Haus und die vier Treppen hinauf. Meine Mutter fiel bald in Ohnmacht und wurde grün im Gesicht, als ich mit dem baumelnden Etwas ankam. Ich legte den Bandwurm auf den Küchentisch, holte eine Lupe und stellte fest, daß der Kopf dran war. Dann warf ich das Scheusal in das Toilettenbecken und spülte es mit vielen Litern Wasser in die Kanalisation. Noch Monate später verging meiner Mutter der Appetit, wenn das Gespräch auf den Bandwurm kam.

Bei den vielen Familien-Geburtstagen trafen sich auch die Hunde immer wieder. Als Hedwig, auch eine Cousine meiner Mutter, einmal ihren Geburtstag feierte, führte deren Tochter Erna ein Kunststückchen vor. Sie setzte sich auf einen Stuhl, sagte zu ihrem Königspudel Bango: ,,Bango, komm, mach ein Singerchen!" - und Bango sprang von hinten auf ihre Schultern, woraufhin Erna aufstand (mit dem Pudel auf ihren Schultern) und Bango ein Geheul wie von einer Sirene anstimmte, was natürlich großes Gelächter bei allen Anwesenden hervorrief. Auf allen folgenden Geburtstagen mußte auf Wunsch der Verwandten das ,,Singerchen" wiederholt werden, oft mehrmals am Abend. Bei einer Silvesterfeier in Hedwigs und Ernas Wohnung in der Müllerstraße 156b im Bezirk Wedding war nach der Knallerei Bango verschwunden Der große Hund wurde überall in der kleinen Wohnung gesucht. Schließlich entdeckte man ihn. Er hatte sich flachgemacht wie eine Flunder und hatte sich hinter den Kachelofen geflüchtet. Nun war es für ihn allein unmöglich, wieder hervorzukommen. Ich half dabei, und millimeterweise rutschte Bango dann zurück Diese Befreiungsprozedur dauerte etwa eine gute Stunde.

Dixi war eine wunderschöne tiefrote Langhaarteckelhündin, die einer weiteren Cousine meiner Mutter, Alwine Wroblewski, gehörte. Sie wohnte in der Liebenwalder Straße im Bezirk Wedding im vierten Stock eines uralten Hauses, das heute nicht mehr existiert. Dixi war sehr selbständig. Sie machte völlig allein ihre Ausflüge in die Straße, kletterte die vier Stockwerke allein hinunter, machte unten ihr Geschäft und stieg dann allein die Treppen wieder hinauf. Nun werden Hündinnen nun einmal von Zeit zu Zeit läufig, doch die Familie hatte nicht darauf geachtet. Anders jedoch ein roter Langhaar-Rüde aus der Nachbarschaft. Der wartete dann bereits unten auf dem Hof, wenn Dixi herunterkam, und schnüffelte, ob es nicht endlich soweit sei. Und er kam solange, bis es soweit war. Das Ergebnis waren vier entzückende dunkelrote Langhaarteckel-Welpen. Alwines Tochter Gisela - eine Großcousine von mir - kümmerte sich um die Aufzucht der Welpen, und als sie ein Vierteljahr alt waren, konnten alle in der Nachbarschaft untergebracht werden.

Meinem Stiefvater Fritz Sch., der im Krieg die Malaria und anschließend Diabetes bekommen hatte, fiel das Steigen der vier Stockwerke in der Kopernikusstraße 6 immer schwerer. Meine Mutter machte sich auf die Suche nach einer neuen Wohnung. Im Mai 1955 zogen dann meine Mutter, mein Stiefvater Fritz und meine Großmutter Mathilde nach Berlin-Karlshorst, und zwar in eine Parterre-Wohnung in der Cäsarstraße 8. Am Tag nach dem Einzug, wo ich noch mitgeholfen hatte, erlitt mein Stiefvater direkt vor dem Haus einen Herzinfarkt. Jede Hilfe kam zu spät. Meine Mutter, die sich vor dem Ort graulte, zog dann zusammen mit meiner Großmutter und mit Hexe in die Treskowallee 129.

Hexe wurde im Laufe der Zeit ruhiger und behäbiger. Als sie sechs Jahre alt war, wollte sie eines Tages kaum noch fressen. Wenig später war Blut im Urin. Meine Mutter fuhr mit ihr zum Tierschutzverein in die Schicklerstraße am Bahnhof Jannowitzbrücke. Dort stellte man fest, daß sie einen bösartigen Uterus-Tumor hatte, der schon gestreut hatte. Meine Mutter kam ohne Hund wieder nach Hause. Für mich war Hexes Ende ein Schock; es dauerte lange, bis ich darüber hinweg war. Sowohl für meine Mutter als auch für mich begann für zweieinhalb Jahrzehnte eine hundelose Zeit.


"Hexe", Foto von 1952