Der Weg zur Musenhöhle

3. Kapitel

Auf dem rauhen Rücken der Erde


In der realen Welt ist der Weg zur Musenhöhle sehr schwer zu finden. Die Musenhöhle ist auf keiner Landkarte und in keinem Altlas verzeichnet, aber es gibt sie dennoch. Man muß von einem bestimmten Ausgangspunkt kommen, von einem Ort, der im Musen-Atlas verzeichnet ist. Solche Orte sind beispielsweise Avalon, Tintagel, Kareol, Tuonela, Orleans, die Gralsburg, die Stadt Sevilla, Karthago, das Haus von Gianni Schicchi in Florenz, der Petersplatz und die Engelsburg in Rom, der Campiello in Neapel, der Nil in der Nähe der Pyramiden, der Berg Sinai, das Land Saba, Babylon, Palmyra, Putiwl, Jaroslawl, Nowgorod, der Moskauer Kreml, das große Tor von Kiew, aber auch sehr ferne Orte wie der New Yorker Central Park, der Mississippi River, New Orleans, der Grand Canyon oder auch der Kaiserpalast in Peking oder die Stadt Yokohama.

Der Besucher muß den Weg zur Musenhöhle unbedingt zu Fuß zurücklegen, denn den Eiligen, die per Flugzeug oder Auto reisen (oder rasen) öffnet sich die Musenhöhle nicht. Man muß Zeit haben, die musischen Orte kennenzulernen. Nur in bestimmten Vollmondnächten kann man den Eingang finden, und zwar nur am 3., am 7. und am 13. eines jeden Monats. Und wenn der Mond nicht scheint, weil er von Wolken verdeckt wird, ist es vollkommen unmöglich, die Musenhöhle zu finden.

Kommt man von Westen - also von Tintagel, Avalon, Kareol, aus Schottland von der Stätte, an der sich Macbeth mit den Hexen traf, von den lustigen Weibern von Windsor und dem dicken Sir John Falstaff oder vom Markt von Richmond oder von Antwerpen aus Elsas und Lohengrins Brautgemach - , dann führt der Weg unweigerlich am Ilsenstein vorbei. Wenn der Wanderer dort ein Pfefferkuchenhaus erblickt, sollte er um dieses Haus einen ganz großen Bogen machen, denn in diesemHaus wohnt Rosine Leckermaul, die jedem Besucher die Gliederstarre anhext und ihn anschließend in ihrem Ofen zu Pfefferkuchen verarbeitet.

Kommt der Wanderer mehr von Südwesten, also von der Arena von Sevilla, von der Schmugglerkneipe des Lilas Pastia, aus Arles oder aus dem Escorial, dann gibt es zwei Wege: entweder durch die Schweiz oder durch das Elsaß.

In der Schweiz ist es gefährlich, denn dort kann der Frömmste nicht in Frieden bleiben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt, wie schon Friedrich Schiller treffend festgestellt hat. Außerdem herrscht dort der Fronvogt Geßler, der seinen Hut auf einer hohen Stange anbringen ließ und von jedem, der vorbeigeht, verlangt, den Hut zu grüßen. Doch vereint sind auch die Schwachen mächtig, wie Schiller ganz richtig erkannte, und so gibt es dort ständig Kämpfe zwischen den Geßler-Anhängern und den Anhängern von Wilhelm Tell. Der Weg durch das ansonsten wunderschöne Schwyzerländli ist also wirklich nicht zu empfehlen.

Bleibt also nur der Weg durch das Elsaß. Doch dort ist man dem Weine sehr zugetan und feiert gern ausgiebig in wirklich ausgelassener Weise jede Gelegenheit. Und der Wanderer könnte leicht für den Rest seines Lebens dort hängenbleiben und niemals sein Ziel - die Musenhöhle - erreichen.

Wenn der Wanderer die Schweiz gemieden und den elsässischen Versuchungen widerstanden hat und weiterwandert, führt der einzige Weg zur Musenhöhle durch dasHörseltal. Am besten ist es, auf der Talsohle zu bleiben und in Eisenach im Geburtshaus von Johann Sebastian Bach zu nächtigen.

Bachs Geburtshaus in Eisenach. Foto: Theodor Harder, Eisenach
Quelle: "Bach" von Heinrich Sitte, Universitäts-Verlag Wagner, Innsbruck 1931

Wenn man die Talsohle verläßt und sich nach rechts wendet, kommt man in den Bereich der Wartburg. Dort herrschen unduldsame Haudegen wie der berüchtigte Biterolf, der jeden, der nicht seine Meinung teilt, zum Kampf herausfordert. Und das sollte doch man lieber nicht riskieren, denn Biterolfs Schwert ist gefürchtet.

Quelle: www.wartburgstadt.de

Wenn man sich zu weit nach links bewegt, betritt man die Hörselberge. An einer versteckten Stelle - hinter einer Dornenhecke - sieht man die Trümmer eines gesprengten Bunkers.


Am Hörselberg

Die Stufen sind verwittert und von Laub bedeckt; unten wird der Weg durch einen großen Stein versperrt. Doch wenn der Richtige kommt, findet er dort einen offenen Eingang, und Frau Venus lockt den Wanderer zu sich in ihre Grotte, wo die Sirenen verführerisch singen und den Gast verwöhnen.

Im Venusberg. Inszenierung von Wieland Wagner
Quelle: Programmheft "Tannhäuser" der Bayreuther Festspiele 1962

Wenn es dem Wanderer gelingen sollte, sich am nächsten Morgen den Armen der Frau Venus zu entwinden, indem er die Jungfrau Maria anruft, wird er feststellen müssen, daß er nicht eine Nacht, sondern ein ganzes Jahr im Venusberg verbracht hat.

Weiter führt dann der Weg an die Unstrut. Dort gibt es Weinberge, und dort wird auch ein prickelndes Getränk hergestellt, das in grüne dickwandige Flaschen gefüllt wird, auf deren Etiketten "Rotkäppchen" steht. Und wenn man von diesem wohlschmeckenden Getränk zuviel trinkt, kann man den Weg zur Musenhöhle niemals finden. Und man könnte plötzlich dem bösen Wolf gegenüberstehen.

Doch dann führt der Weg zur Musenhöhle quer durch die große Stadt Leipzig direkt an Auerbachs Keller vorbei.

Wehe, er betritt diesen Keller, denn Mephistopheles ist immer auf der Lauer nach neuen Opfern.

Der Faßkeller
Quelle: www.auerbachs-keller-leipzig.de

Wie es endet, wenn sich jemand mit Mephistopheles einläßt, kann man an anderer Stelle lesen:

_____

Chor der Verdammten und der Teufel
(in einer infernalischen Sprache):

Has! Irimiru Karabrao! Has! Has! Has!

Die Fürsten der Finsternis:
Mephisto, bist du für immer Gebieter und Sieger
über diese so stolze Seele?

Mephistopheles: Ich bin ihr Gebieter für immer!

Die Fürsten der Finsternis:
Faust hat also freiwillig die entscheidende Urkunde unterzeichnet,
die ihn dem Feuer ausliefert?

Mephistopheles: Er unterschrieb freiwillig.

Chor: Has! Has!
(Die Teufel tragen Mephistopheles im Triumphzug)

Chor:

Tradioun marexil fir tru dinxe burrudixe.
Fory my dinkorlitz,
O merikariu! O mevixe! Merikariba!
O merikariu! o mi dara caraibo lakinda,
merondor dinkorlitz,
merondor dinkorlitz, merondor.
Tradioun marexil,
Tradioun burrudixe,
Trudinxe caraibo.
Fir ome vixe merondor
Mit aysko, merondor, mit aysko! oh! oh!

(Die Teufel tanzen um Mephistopheles)

Diff! Diff! merondor, merondor aysko!
Has! Has! Satan! has! has! Belphegor!
Has! has! Mephisto! has! nas! Kroix!
Diff! Diff! Astaroth! dif! diff! Belzebuth!
Belphigor! Astaroth! Mephisto!
Sat, sat rayk ir kimour.
Has! has! Mephisto!
Has! has! has.
Irimiru karabrao.
_____

EPILOG
Auf der Erde


Einige Stimmen:

Also schwieg die Hölle.
Nur das schreckliche Brodeln ihrer großen Flammenmeere
und das Zähneknirschen derer, die die Seelen martern,
war noch zu hören;
und in ihren Tiefen vollzog sich ein schauderhaftes Geheimnis.

Halbchor:  Wehe, wehe!
_____

Quelle: Hector Berlioz, "La Damnation de Faust", Pandaemonium und Epilog "Auf der Erde"

Wenn der Wanderer den Versuchungen Mephistos widerstanden hat, führt der Weg zur Musenhöhle zum Wohnhaus von Felix Mendelssohn-Bartholdy, ganz in der Nähe des "Neuen Gewandhauses". Aber es gibt noch andere Beziehungen zwischen der Stadt Leipzig und den Musen. Leipzig war für ein halbes Jahrhundert die Welthauptstadt der Musik. Richard Wagner ist in Leipzig geboren. Die Namen Johann Kuhnau, Johann Sebastian Bach, Robert Schumann, Niels Wilhelm Gade, Edvard Grieg, Carl Reinecke, Julius Klengel, Max Reger u.a. sind mit der musischen Atmosphäre der Stadt Leipzig engstens verbunden. Anton Bruckner hatte in Leipzig seinen Durchbruch als Komponist. Gustav Mahler hat seine erste Sinfonie in Leipzig komponiert. Aber nicht nur auf dem Gebiet der Musik war Leipzig die Welthauptstadt. Auch auf dem Gebiet desd Verlagswesens hatte Leipzig in der ganzen Welt eine Spitzenposition. Friedrich August Brockhaus - ein Schwager Richard Wagners - begründete seinen Verlag in Leipzig. In Leipzig erschienen "Meyers Lexikon" und der "Duden". In Leipzig gab es den Schulbuch-Verlag B.G. Teubner. Und in Leipzig gab (und gibt) es die Musikverlage Breitkopf unf Härtel, C. F.Peters, H. Litolff, Beljajew, Kahnt, den Mitteldeutschen Verlag für Nusik, den VEB Deutscher Verlag für Musik und andere Verlage, die Kulturgeschichte geschrieben haben.

Wenn der Wanderer das Glück gehabt hat, einer Bach-Kantate oder -Passion in der Thomaskirche oder einem Konzert im "Neuen Gewandhaus" - der zu den akustisch besten Konzertsälen der Welt gehört - beiwohnen zu dürfen und dort ein Konzert zu genießen - beispielsweise Mendelssohns "Walpurgisnacht" oder Schumanns "Frühlings-Sinfonie" - , dann ist der Wanderer in der Lage, die nächsten Hürden und Gefährnisse auf dem Weg zur Musenhöhle einfach zu überspringen.

Für normale Sterbliche führt weiter über Eilenburg und Torgau an der Elbe mit dem Schloß Hartenfels, wo es in jeder Nacht spukt. Schloß Hartenfels an der Elbbrücke ist zudem ein musischer Ort ganz besonderer Art: dort wurde die erste deutsche Oper "Daphne" von Heinrich Schütz uraufgeführt.

Schloß Hartenfels in Torgau
Quelle: www.torgau.de

Von dort geht es über Herzberg/Elster und Luckau nach Lübben.

Herzberg/Elster, Marktplatz
Quelle: www.herzberg-elster-stadt.de

Alle diese uralten Städte haben ihre dunklen Geheimnisse.

Luckau, Stadtmauer mit Napoleonhaus
Quelle: www.luckau.de

Luckau, Rathaus
Quelle: www.luckau.de

 

Luckau, Stadtkirche St. Nicolaus
Quelle: www.luckau.de

In Lübben gibt es den "Hain", ein romantisches Sumpfwald-Gelände. Die Bäume, die dort stehen, sind teilweise älter als tausend Jahre.

Der Hain in Lübben, von der Berliner Chaussee aus gesehen

Fremde verlaufen sich leicht dort und kommen niemals an der Stelle aus dem Hain heraus, zu der sie eigentlich wandern wollten. Doch dann gelangt man irgendwo an den Liuba-Stein. Dort befindet sich das heimliche Zentrum des gesamten Spreewalds. Zweimal im Jahr - in der ersten Vollmondnacht nach dem Sommeranfang und in der ersten Vollmondnacht nach dem Winteranfang - versammeln sich dort die alten slawischen Götter und Geister und halten Rat. Wer in einer solchen Nacht diesen Göttern und Geistern begegnet, der verschwindet spurlos.

Der Liuba-Stein im Lübbener Hain
Im Hintergrund die Berste-Brücke

Doch auch in den andern Nächten ist das Durchqueren des Hains nicht ungefährlich. Nachts schreien dort die Käuze und aus dem Flüßchen Berste, das den Hain durchquert, steigt der Wassermann heraus und greift mit seinen kalten Händen nach dem Wanderer.

Die Berste im Lübbener Hain

Nach Sonnenuntergang bilden die Berste und der Stadtgraben die Grenze zwischen der realen Welt und der Welt der Käuze, der Eulen und der Geister. Links im Bild ist die Welt der Götter und Geister und rechts beginnt wieder die reale Welt.

Die Stadtgrabenbrücke am ehemaligen Haintor in Lübben in der Abenddämmerung

Direkt am Weg zur Stadtgrabenbrücke - gegenüber dem Liuba-Stein - befindet sich der verfallene Hochsitz des Wilden Jägers. Wehe, man kommt ihm ins Visier!

Der Hochsitz an der Stadtgrabenbrücke

Sicherer ist daher der Umweg über die Stadtgrabenschleuse. Doch der schmale Weg über die beiden Wehre ist glitschig. Das Geländer ist durchgerostet. Wenn man sich auf das Geländer stützt, fällt es zu Staub zusammen und der Wassermann steigt hoch und greift nach dem Fremden, der es wagt, in sein Reich einzudringen.

Die Stadtgrabenschleuse am Haintor

Wenn man den Weg aus dem Hain gefunden hat, kommt man an der Postsäule aus dem Jahre 1735 vorbei.

   
Die Postsäule in Lübben. Gleich dahinter beginnt der Hain

Wenn man weiter zum Schloß will, muß man durch den Napoleonbogen gehen.

Der Napoleonbogen in Lübben

Dann führt der Weg am Schloß vorbei. Der wuchtige Schloßturm steht neben dem Hauptgebäude. Zum Turm führt eine mittelalterliche Bogenbrücke.

Links das Schloß (1682), rechts der Schloßturm (wesentlich älter),
hinten der Marstall (nach 1700)

Im Schloßturm befindet sich ein großer Saal, der mit den Wappen der Familien, die dieses Land einst beherrschten, geschmückt ist.


Der Schloßturm in Lübben
Links das eigentliche Schloß, rechts der Marstall

Zur Geisterstunde kommen oft klirrende Geräusche aus dem Turm, so als ob die Geister der alten Ritter miteinander kämpften.

Der Weg zur Musenhöhle führt dann zwischen dem Schloßturm und dem "Ständehaus" - einem schloßähnlichen Gebäude - hindurch, in dem sich zeitweilig das Edelfräulein Minna von Barnhelm aufhielt. Auch dort spukt es in jeder Nacht.

Das Ständehaus in Lübben  (1717)

Von Lübben aus führt der Weg nach Osten. Es gibt eine Straße quer durch den finsteren Wald und einen Fußweg. Die Straße zu benutzen, ist lebensgefährlich, wie die am Rande aufgestellten Kreuze zeigen. Die Waldgeister, die sich oft als Wildschweine tarnen, fordern ihren Tribut. Etwas sicherer ist der Fußweg. Doch am Tage erscheint dieser Weg als ein verwachsener Pfad, der unpassierbar scheint. Nach Sonnenuntergang ist der Weg auf einmal passierbar. Doch dieser Weg führt direkt am Waldrand entlang. Rechts ist dann der große Sumpf, in dem wieder der Wassermann herrscht. Und das ist das schwierigste Stück des Weges. Wie es am großen Sumpf weitergeht, wird weiter unten beschrieben.

 

Kommt man von Norden, von der Halle des Bergkönigs, von Troldhaugen oder Sandvike, muß man auf jeden Fall den Öresund überqueren. Die schmalste Stelle dieses Meeresarmes befindet sich zwischen Helsingborg und Helsingör. Dort steht ein finsteres Schloß, in dem ein Prinz einmal sinnierte: "TO BE OR NOT TO BE - THAT IS THE QUESTION".

Weiter führt der Weg an der Burg Gurre vorbei. Die Waldtaube erzählt von der traurigen Geschichte von Tove und König Woldemar. Und des Sommerwindes wilde Jagd kann den Wanderer vom rechten Weg abbringen.

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Dann führt der Weg am Stechlinsee vorbei. Weiter geht es über Wuthenow nach Ribbeck im Havelland.

Illustration von Bernd Streiter zum Buch:
Theodor Fontane: Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland.
Aufbau-Verlag, Berlin 2002. 12,50 €

Zur Herbstzeit wird man dort mit köstlichen Birnen beschenkt. Dann führt der Weg weiter nach Berlin durch das Brandenburger Tor und weiter zum Gendarmenmarkt.

Heinrich Zille: Am Brandenburger Tor

Dort gibt es eine gefährliche Stelle. Das ist der Weinkeller von Lutter und Wegener. Dort ist oft der Kammergerichtsrat Ernst Theodor Amadeus Hoffmann anzuteffen, der seine Geschichten über Olympia, Giulietta und Antonia erzählt. Und leicht kann man dort hängenbleiben und kommt nie mehr von diesem Orte los.

 

 

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