Der Weg zur Musenhöhle

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Endlich am Ziel?


Nun dürfte der Wanderer den größten Teil des Weges zur Musenhöhle bewältigt haben. Doch noch ist er nicht am Ziel. Eine halbe Meile vor dem Eingang zur Musenhöhle muß er an der Hütte der Baba Jaga vorbei.

Die Hütte der Baba Jaga / Pohlednice zur Mittagszeit im Sonnenschein

Um die Mittagszeit verläßt die Baba Jaga die Hütte in Gestalt der Pohlednice, auch bekannt als Mittagshexe oder Roggenmuhme. Sie hat einen eisernen Laubbesen in der Hand und scharrt eine Stunde lang auf dem Erdboden, auch wenn es garnichts zum Scharren gibt. Um 13 Uhr verschwindet sie wieder in der Hütte. Wer ihr folgt, findet nur ein leeres verfallenes Haus.

In der Nacht vom 30. April zum 1. Mai - der Walpurgisnacht - nimmt die Baba Jaga ihren Scharrbesen zwischen die Beine und fährt durch den Schornstein hinaus in Richtung Ilsenstein, Blocksberg oder Brocken.

Von hinten sieht die Pohlednice aus wie ein junges Mädchen, aber wenn man sie anspricht, dreht sie sich um. Wenn man dann ihr Gesicht sieht, blickt man auf das Haupt der Medusa. Und wer die Medusa ansieht, der erstarrt zu Stein.


 
Das Haupt der Medusa

Wenn der Wanderer diesen gefährlichen Ort gemeistert hat, bricht plötzlich die Dämmerung herein.

Und da kann es vorkommen, daß der Wanderer im hellen Mondschein einen alten Wagen mit knarrenden Holzrädern sieht, der von einem schwarzen Pferd gezogen wird. Auf dem Wagen liegt ein schlichter Sarg. Das Pferd ist auf dem Wege zum Friedhof. Wer mag wohl in dem Sarge liegen?

Jetzt droht dem Wanderer die höchste Gefahr. Es handelt sich nämlich nicht um ein "normales" Pferd. In der Geisterstunde verwandelt es sich in ein Schreckgespenst.



"Nachtmahr"  von Heinrich Füseli.  Goethemuseum Frankfurt/Main

Wie unter einem Zwange müßte der Wanderer diesem Pferd folgen. Wenn er dem Zwang nicht widersteht, ist er verloren. Auf dem Friedhof würde er den unheimlichen Begleiter der unglücklichen Lenore treffen. Und bisher ist noch keiner, der diesen in ein schwarzes Tuch gehüllten Begleiter gesehen hat, wieder vom Friedhof zurückgekommen.



Ist der Wanderer beinahe am Ziel angekommen, muß er noch eine letzte Prüfung bestehen. Unmittelbar neben dem Eingang zur Musenhöhle befindet sich das Haus der Hexe Tamara.

Das Haus der Hexe Tamara bei Vollmond

Nachts brennt in diesem Hause immer Licht hinter einem Fenster, um den Wanderer anzulocken. Wenn er dann anklopft und ihm geöffnet wird, und wenn er das Haus betritt, schließt sich hinter ihm die Tür für immer. Dann zeigt sich die Bewohnerin in ihrer wahren Gestalt:

Diese passende Zeichnung habe ich zufällig entdeckt; der Verfasser ist mir nicht bekannt. M. G.

Tamara zwingt den Besucher, sich auszuziehen und umarmt ihn dann fest und unerbittlich. Und nach einigen Tagen wird dann wieder einmal an einem der vielen Wehre in der Nähe eine unbekleidete männliche Leiche mit vielen unerklärlichen Verletzungen angeschwemmt.

 

Wenn der Wanderer der Versuchung widerstanden hat, in das Haus einzutreten, wird es sehr schnell wieder hell. Der Wanderer steht nun vor einem Haus, das von einer Dornenhecke halb verdeckt wird:

Wenn ein amusischer oder gar feindlicher Besucher kommt, schließt sich die Dornenhecke völlig und erscheint undurchdringlich.

Wenn nun der Besucher versuchen sollte, von der Rückseite in das Haus zu gelangen, müßte er die Küche durchqueren. Doch diese Durchquerung erfordert Mut, starke Nerven und Glück. In der Küche wohnen die Wächter der Musenhöhle, nämlich die besonders bissigen Hündinnen. Nachts liegen sie übereinander und schlafen, wenn sie nicht gerade in den Fernseher schauen und sich über die Programme ärgern. Die Wächter haben nämlich ihrenen eigenen Fernsehapparat, damit ihnen die Zeit nicht zu lang wird, und sie wissen auch die Fernbedienung zu benutzen. Am liebsten sehen sie natürlich Serien wie "Kommissar Rex", "Tierarzt Dr. Engel", "Hallo Robbie!" oder "Unser Charly". Sie lieben aber auch die Oper "Die Hundsköpfler" oder Krimi-Klassiker wie "Der Hund von Baskerville".



In der Nacht liegen alle Hündinnen übereinander. Und alle schlafen friedlich - bis auf eine, die jeweilige Wächterin. Dieser Wächterdienst wechselt in jeder Nacht. Schließlich will jeder Hund einmal schlafen.

Wenn jedoch irgendein Geräusch zu hören ist, sind alle Hündinnen sofort wach. Und dann beginnt ein Gebell wie von der Wilden Jagd. Das ist wohl ein Erbteil ihrer Urahnen Garm und Zerberus. Wie bekannt, hat jedes Ding mindestens zwei Seiten, so auch die Unterwelt, im Norden Hel oder Hella oder auch Tuonela und im Süden Hades genannt. Garm bewacht den Nord-Eingang bei der Gnipahellir und Zerberus oder Kerberos den Süd-Eingang im fernen Griechenland am Fuße des Olymps. Und wenn in der Unterwelt im ganz großen Stammbuch aller Hunde nachgesehen wird und die Nachkommen von Garm und Zerberus ermittelt werden, so landet man letztendlich unter anderem auch bei unseren Wächtern.

 

      
Zeichnungen: J. Strieder



Bei den Nachfahren von Garm und Zerberus und deren Ehefrauen sind wir inzwischen angekommen. Von Garm und Zerberus ist bekannt, daß sie zwar JEDEN in das vom ihnen zu bewachende Reich des bösen Gottes Loki und seiner Gemahlin Sigyn odes des Gottes der Unterwelt Pluto und dessen Gemahlin Proserpina (Persephone) einließen, daß aber - mit einer einzigen Ausnahme - keiner jemals dieses Reich wieder verlassen konnte. Diese einzige Aunahme bildete ORPHEUS, der durch seinen Gesang die Gottheiten und Geister der Unterwelt bezwang.

Orpheus hatte noch geistesgegenwärtig ein Foto gemacht, als er sich auf seinem Rückweg in die irdische Welt verbotenerweise umdrehte und seine Eurydike erblickte, die er dadurch für immer verlor.

 

Wenn der Wanderer nun endlich vor der Tür steht und das wütende Gebell der Höllenhunde im Hause vernimmt, muß er sich entscheiden, ob er die Glocke am Türrahmen läutet oder nicht. Würde er jemals wieder die Musenhöhle verlassen können?   To ring or not to ring - läuten oder nicht läuten - das ist hier die Frage.